Der Kreis in der Architektur | geberit.de

Absolut ambivalent Der Kreis in der Architektur

Spreebogenpark Berlin

Autor: Dave Großmann, Künstler und Redakteur an den Schnittstellen von Design, Kunst und Architektur

Keine andere Form ist so vollkommen wie der Kreis – und zugleich so paradox. Mit ihm lassen sich keine halben Sachen machen. Doch warum steht man dem Kreis in der Architektur so zwiespältig gegenüber?

Er ist die Urform schlechthin. Als der frühe Mensch das Licht der Welt erblickte, sah er zuerst das leuchtende Rund von Sonne oder Mond. Die Augen der Mutter sind der erste sichtbare Bezugspunkt eines jeden Kindes. Der Kreis wirkt. Im gesamten Universum ziehen die kleinsten Teilchen ihre Runden so selbstverständlich wie Planeten auf kreisförmigen oder zumindest elliptischen Bahnen. Die Natur macht es mühelos vor und wir adaptieren. Die wohl wichtigsten Erfindungen der frühen Zivilisation: Allesamt abgeguckt von der Natur des Kreises. Das erste Rad – herausgesägt aus Baumscheiben. Oder die Zeit, als Beobachtung der Zyklen von Himmelskörpern. Von jeher versammelte sich der Mensch nachts im Kreis um das Feuer. Er entsteht in jeder Gruppe aus einer intuitiven Logik heraus, um besser sehen oder hören zu können. Selbst Herdentiere bilden in Gefahrensituationen Kreise. Andere wiederum bauen runde Nester oder kreisen über unseren Köpfen. Kein Wunder, dass der Kreis schon immer als heilig betrachtet wurde.

Runde Dachkuppel
Chinesischer Torbogen

Ambivalente Geometrie

Doch gilt das auch für die Architektur? Nüchtern betrachtet, ist der Kreis in der Gestaltung eine Medaille mit zwei Seiten. Denn er kennt weder Anfang noch Ende. Er steht für Harmonie und ist ebenso spannungslos. Auf merkwürdige Weise wirkt er in alle Richtungen gleichmäßig und ist gleichzeitig nicht richtungsweisend. Während ein Quadrat in sich ruht, könnte man meinen, der Kreis »schwebe« auf der Fläche. Er eckt nicht an – doch fügt sich auch nicht ein. Er ist ein Einzelgänger. Nur schwer kann man ihn mit anderen Formen in Verbindung bringen. Diese Eigenschaften machen ihn einerseits erhaben – allerdings auch sperrig und unflexibel. Unweigerlich steht man dem Kreis in der Architektur oft skeptisch gegenüber. Von welcher Seite kann man sich ihm bestenfalls nähern?

Der Kreis im Inneren

Es muss gute Gründe dafür geben, dass nomadisch lebende Kulturen seit Jahrtausenden rund bauen. Bekannteste Beispiele sind wohl die Iglus der Inuit oder mongolische Jurten. Doch auch in größerem Maßstab kann man davon ausgehen, dass es eher pragmatische als ästhetische Gründe für den Kreis gibt. Tatsächlich bringt die Natur des Kreises wesentliche ökonomische Vorzüge mit sich. Etwa haben Zylinder das optimale Verhältnis von Grund- und Fassadenfläche. Ergo verbraucht ein rundes Gebäude gegenüber einem rechteckigen Haus weniger Material und ebenso weniger Energie. Die Form weist Wind und Regen ab; es gibt weniger Schimmelbildung, da Schimmel bekanntlich die Außenwandecken befällt. Zusätzlich können bei guter Planung die Verkehrswege wie Treppen und Flure auf ein Minimum reduziert werden, in dem sie als kleine, innere Ringe um den Kern angelegt werden. Die Folge: mehr Platz für Wohn- und Nutzflächen, lange Flure dagegen werden vermieden.

Luftaufnahme Kreisverkehr

Ästhetisch eindrucksvoll

Doch was genau löst der Kreis in uns Menschen aus, in einer sonst so orthogonalen Welt? Ein rundes Haus wirkt zunächst befremdlich. In einem komplett runden Raum fühlt man sich einerseits im Zentrum und geborgen, andererseits auch ein wenig verloren. Die Wände geben hier keine Orientierung. Kreisrunde Fenster wirken ebenso ambivalent: Der einzelne Kreis strahlt eine nahezu heilige Aura aus. Dagegen ruft eine gelöcherte Fassade wohl immer eine ungewollte Käseassoziation hervor. Runde Tische hingegen haben sich aufgrund der fehlenden Hierarchie bereits als positives Symbol etabliert. Der Kreis hat seine Tücken, doch kann ebenso geschickt eingesetzt werden. Im Außen kann ein rundes Gebäude von allen Seiten gleich betrachtet werden und den Blick auf sich ziehen. Nicht nur aus praktischen, sondern auch aus ästhetischen Gründen eignet sich der Kreis vorwiegend als Solitär. Er bietet sich dort an, wo nicht Effizienz, sondern die Attraktion und das Erlebnis im Vordergrund stehen – von repräsentativen Gebäuden, Galerien, Museen oder Theatern bis hin zu Stadien oder sakraler Architektur.

Solomon R. Guggenheim Museum in New York

Im Radius der Gegenwart

Doch ein Kreis ist weitaus mehr als zweckmäßig und psychologisch wirksam – er ist vor allem bedeutungsschwanger. Schon immer diente er den Religionen als Symbol für das Überirdische. Heute visualisieren wir auch die konkrete Welt vor allem in den Bereichen Wirtschaft, Politik und Ökologie anhand von Kreisläufen. Ein Kreis ist immer aufgeladen und nicht einfach nur Formvollendung. Er deutet auf das Absolute hin. Kurzum: Jeder Kreis ist auch ein Statement. Wenn man sich einen überdimensionalen Ring als Headquarter setzt, dann kann das futuristisch, aber auch provokant wirken. Wie zeitgemäß ist Architektur, die radikale Perfektion widerspiegelt? Passt die minimale Reinform in eine Gegenwart, die vor allem durch globale Herausforderungen bestimmt wird? Man könnte meinen, mit der ewigen Urform – die weder Anfang noch Ende kennt – gelinge die zeitlose Antwort auf große Fragen. Doch in der gegenwärtigen Architektur will sich der Kreis nicht so einfach schließen.

Yoga-Raum in einer Jurte

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