Illusion auf Augenhöhe

Carcassonne - eine Stadt in Südfrankreich und UNESCO-Weltkulturerbe interpretiert mit konzentrische Kreise von Felice Varini (© Alamy).

Auf den ersten Blick eine digitale Grafik, doch in Wahrheit sind es riesige Malereien: Der Schweizer Künstler Felice Varini ist ein Meister der optischen Illusion und definiert Größe neu.

Autor: Dave Großmann, Künstler und Redakteur an den Schnittstellen von Design, Kunst und Architektur

Wände bemalen – das ist ein urmenschliches Bedürfnis. Das können Eltern von Kleinkindern ebenso bestätigen wie die frühesten Bilder der Menschheitsgeschichte. Denn es liegt nahe, vertikale Wände zu gestalten. Sie sind bequem im Stehen zu erreichen und ebenso leicht zu betrachten. Die Wandmalerei ist ein Phänomen, das sich über die Jahrhunderte durch alle Kunstepochen zieht und gegenwärtig einen neuen Höhepunkt erlebt. Dabei wurden immer wieder alle Rahmen gesprengt, sowohl in der Dimension als auch in der akribischen Ausführung. Doch nur selten hat sich diese über die flache Ebene hinausbewegt. Ist die Wandmalerei an ihre Grenzen gestoßen?

Der Schweizer Künstler Felice Varini gibt auf diese Frage eine klare Antwort. Der gesamte Raum ist seine Leinwand. Varinis Kunst ist ein Paradebeispiel der optischen Täuschung – simpel und kolossal zugleich. Ausgehend von einem einzigen festgelegten Standpunkt werden rein geometrische Formen über die gesamte Tiefe der Architektur gemalt. Die Motive reichen von einfachen Kreisen und Linien bis hin zu komplexen Mustern. Dabei werden sie perspektivisch so verzerrt, dass sich das eigentliche Bild aus nur einem einzigen Blickwinkel ergibt. Sobald man diesen Standpunkt verlässt, löst sich das Bild optisch auf. Alle Formen verlieren sich im Chaos. Das Prinzip dahinter nennt sich anamorphotische Illusion und wurde von Varini perfektioniert.

Was genau versteht man unter Anamorphose? Mit Hilfe dieser Technik werden Bilder so gestaltet, dass sie nur aus einem bestimmten Blickwinkel erkennbar sind. Erstmals wurde diese in der Renaissance angewandt, um Deckenmalereien in Kirchen oder Palästen anzufertigen. Somit konnten Wölbungen in Kuppeln optisch ausgeglichen werden. Darüber hinaus begegnet uns diese Methode beispielsweise bei Verkehrszeichen auf Straßenoberflächen: in Form von Zahlen, Buchstaben und Pfeilen. Aus dem flachen Blickwinkel eines Autofahrers können sie so besser wahrgenommen werden. Im Alltag eine clevere Sehhilfe – in der Kunst die perfekte Illusion.

Central Saint Martins Schule der Kunst in London interpretiert durch den Schweizer Künstler Felice Varini (© Alamy).

Damit dieser optische Trick gelingt, braucht Varini die passende Bühne. Denn seine Werke erfordern gewisse Qualitäten in der Architektur: vielfältige Ebenen, klare Fluchtlinien, gemischte Lichtsituationen. Egal ob drinnen oder draußen – jedes Werk ist ortsspezifisch und auf die jeweilige Situation zugeschnitten. Je komplexer der Raum, desto besser. Schließlich will Varini den flachen Malgrund weitestgehend verlassen. Vor allem das Licht spielt eine entscheidende Rolle, sei es durch die wechselhafte Sonnenstrahlung oder die unterschiedlich reflektierenden Untergründe. Doch selbst wenn alle Voraussetzungen passen, muss Varini tief in die Trickkiste greifen.

Denn sogar einfache Formen sind in Varinis Dimensionen eine Herausforderung. Trotz der unglaublichen Größe braucht es zentimetergenaue Präzision. Wird eine durchgehende Linie über hundert Meter tief in den Raum gemalt, entsteht zwangsläufig eine extreme Verzerrung: An manchen Punkten ist die Linie nur wenige Zentimeter dünn, an anderen Stellen einen ganzen Meter breit. Zudem ist der logistische Aufwand enorm. Denn vorerst müssen alle Immobilienbesitzer ihr Einverständnis geben, ebenso der Denkmalschutz. Ist diese Hürde genommen, braucht es für die Umsetzung ein großes Team. Selbst Profikletterer sind nötig, um die unzugänglichsten Ecken zu erreichen. Planung und Ausführung müssen nahtlos ineinandergreifen.

Künstlers Felice Varini erstellt "Cercles et Suite d' Éclats" auf die Eigenschaften des Dorfes Vercorin, im Wallis, Schweiz (© Alamy).

Doch die Mühe lohnt sich. Mit nur wenigen Formen verwandelt Varini ganze Stadtteile in ein riesiges Kunstwerk. Immer wieder ploppt die Frage auf: Wie wurde das gemacht? Selbst unter erfahrenen Augen geht dieser Zauber nicht verloren. Versucht man die Illusion zu verstehen, erkennt man all die Ebenen, Winkel und Fluchtlinien, die in der Architektur aufgegriffen werden. Zwar wirkt auf einem Foto alles wie eine perfekte digitale Grafik, doch es erzählt nur die halbe Geschichte. Denn das eigentliche Spiel besteht darin, den richtigen Blickwinkel zu entdecken. Eine visuelle Schnitzeljagd, bei der man den einen Punkt im Raum finden muss, an dem alle Linien optisch zusammenlaufen. Nur wenige Schritte weiter fliegt das Bild wieder auseinander. Intuitiv spielt man mit diesem Kipppunkt, an dem sich alles zusammenfügt und auflöst. Ein XXL-Wackelbild. Varinis Kunst ist beides: leicht zugänglich und zugleich eine Lektion in aufmerksamem Sehen. Im Vordergrund steht die ästhetische Wirkung. Die Bilder wirken umittelbar und machen Spaß. Varini geht es nicht es nicht um Symbolik oder versteckte Botschaften. Doch letztlich hat jedes Werk eine sehr persönliche Komponente des Künstlers: Varinis Augenhöhe.

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