Aus einem Guss Die Kunst von Rachel Whiteread

Rachel Whiteread - Untitled "Domestic" (© Alamy Stock Foto)

Was andere versuchen mit der Fotografie festzuhalten, überträgt Rachel Whiteread in Gips und Beton. Vom Waschbecken bis zu verschwundenen Gebäuden – mit monumentalen Abdrücken sammelt sie die Formen des Alltags.

Autor: Dave Großmann, Künstler und Redakteur an den Schnittstellen von Design, Kunst und Architektur

Rachel Whiteread hinterlässt nur Negatives. Damit ist an sich nichts Schlechtes gemeint – sondern aufwendige Abdrücke von den Dingen, die uns umgeben. Die britische Künstlerin zählt seit drei Jahrzehnten zu den wichtigsten Bildhauer:innen unserer Zeit. Sie schafft Skulpturen des Alltäglichen, die alles andere als gewöhnlich sind. Hier wird das Innere nach außen gekehrt: In komplexen Verfahren nimmt sie Negativabgüsse von Badewannen, Holzböden, Türen, Treppen, und schließlich kompletten Häusern.

Doch wie so oft begann alles sehr klein, mit dem Abguss eines Löffels. In ihrem langjährigen Schaffen durchleuchtet sie das Unscheinbare und Alltägliche. Das ist an sich nichts Neues in der Kunst – vielmehr ist es ihr ungewöhnlicher Ansatz, der schon frühzeitig aneckte. Entschlossen verwandelt sie Leere in Masse und Volumen. Ihre Plastiken werden vorwiegend aus Beton, Harz und Gips gegossen, aber auch in Gummi und Papier geprägt. All diese Objekte dokumentieren besonders die Gebrauchsspuren und somit die individuelle Geschichte hinter den Originalen. Risse, Spalten, Patina – die lebendigen Texturen hervorzuheben ist ihr zentrales Anliegen.

Rachel Whiteread spannt einen großen Bogen von Einzelobjekten alltäglicher Gegenstände bis hin zu Architektur. Vor dem Abriss eines viktorianischen Einfamilienhauses in einem Londoner Arbeiterviertel goss die Künstlerin es vollständig mit Beton aus. Das Ergebnis waren drei Stockwerke aus massiven Betonblöcken mit den Abdrücken von Fenstern, Türen und Raumwinkel.

Die Arbeit wurde sowohl geliebt als auch heftig angefeindet – denn die Skulptur kritisierte die fortschreitende Gentrifizierung in London. Doch Kontroversen in der Kunst sind willkommene Steilvorlagen: Im Zuge dieser Arbeit gewann Rachel Whiteread im Alter von nur 30 Jahren und als erste Künstlerin überhaupt den renommierten Turner-Preis. Trotzdem wurde die Skulptur nach nur 78 Tagen abgerissen.

Rachel Whiteread - Untitled "One Hundred Spaces" (© Alamy Stock Foto)

In der Architektur dreht sich vieles um die Substanz. Und doch bewegen wir uns vor allem im Leerraum dazwischen. Eine unsichtbare Materie – aber genauso entscheidend für unser Raumgefühl. Whiteread macht diese Leere sichtbar und lässt sie für sich selbst sprechen.

Neben zahlreichen Fenstern, Türen oder Tischen, goss sie auch den leeren Raum zwischen Stuhlbeinen unter 100 verschiedenen Stühlen mit farbigen Epoxidharz aus. In diesen Serien stellt sie das Abbild von beiläufigen Dingen vergleichend gegenüber. Dennoch gehen ihre Skulpturen weit über die pure Form hinaus. So schwingt in der schmucklosen Nüchternheit auch stets eine melancholische Schwere mit – “Hello darkness, my old friend…“. Die Arbeiten zeugen von Verlust und Vergänglichkeit. So sensibel sie berühren, können sie auch heftige Reaktionen provozieren.

Holocaust Mahnmal in Wien entworfen von Rachel Whiteread. (© Alamy Stock Foto)
"Embankment" von Rachel Whiteread (© Alamy Stock Foto)
Rachel Whiteread - Untitled "Book Corridors" (© Alamy Stock Foto)

Als Rückzug aus Skandalen kann man wohl ihre Serie der “shy sculptures“ verstehen. Weltweit versteckte sie diese Objekte an abgelegenen Orten – etwa in der Wüste Nevadas oder als Abguss einer verlassenen Fischerhütte in den norwegischen Fjorden. Über die Standorte gibt es kaum Informationen, nur mit viel Glück findet man diese. Egal was die Künstlerin umsetzt: Ihre Arbeiten sind konsequent, wollen nicht gefallen und scheuen jeden Kompromiss.

Trotz aller Beharrlichkeit erzählt Whiteread stets leise Geschichten. Dafür braucht sie keine Metaphern, sondern nur subtile Hinweise – Narben in der Oberfläche. Im Grunde muss sie nichts Neues erfinden, ihre Motive sind bereits da. Die Skulpturen bleiben authentisch, das schroffe Material ungeschminkt. Häufig haben diese Anekdoten biografische Bezüge. So wurde das Innenleben eines Schrankes abgegossen, in dem sich die Künstlerin als Kind oft versteckte. Der Rest entsteht im Kopfkino. Mit nur minimalen Mitteln provoziert sie große Gefühle zwischen Beklemmung, Entzücken und Verwirrung.

Denn noch nie gesehene Dinge irritieren. Sie fordern unsere Wahrnehmung heraus. Deutlich wird dies an Whitereads bekannter Treppe, bei der jegliche Orientierung verloren geht. Vertrautes wirkt plötzlich völlig fremd. Die negative Treppe ist zwar klar zu erkennen, aber kaum zu begreifen. Wie man es auch dreht und wendet – diese Stufen funktionieren nicht. Zumindest nicht zum Treppensteigen. Es frustriert und macht gleichzeitig Spaß, die Skulpturen zu rekonstruieren. Wie muss das Original wohl ausgehen haben? Ein visuelles Jeopardy, bei dem nicht die Antwort, sondern die Frage gefunden werden muss. Neben den Formen, lässt sie uns auch die Geschichten hinter all den Räumen und Gegenständen vervollständigen. Insgesamt zeichnet sich ein Bild aus Beiläufigem, Politischem und oftmals auch Persönlichem. Eine spannungsvolle Mischung, abgedrückt im puren Material. Rachel Whiteread hinterlässt nicht nur ihre Negative. Es sind vor allem emotionale Momentaufnahmen – Fotografien aus Beton.

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