Auf ganzer Linie Ein lautes Nachdenken über die Rolle der Linie in der Architektur und darüber hinaus

V & A Dundee, Designmuseum in Dundee, Schottland

Autor: Dave Großmann, Künstler und Redakteur an den Schnittstellen von Design, Kunst und Architektur

Bevor es losgeht, reihen wir uns vor jedem Wettrennen brav an ihr auf. Mit jedem Jahreswechsel nehmen wir uns vor, mehr auf sie zu achten und gelegentlich wird sie auch mal in roter Ausführung überschritten: Mit der Linie verbinden wir so einiges. Zunächst einmal zwei Punkte, denn das ist die einfachste Definition dieser Form. Meist kommt sie grazil daher, mal aber auch mit geballter Wucht, schnurstracks oder geschwungen. Zwischenmenschlich finden wir Parallelen und von Zeit zu Zeit kreuzen sich unsere Wege. Doch ist die Linie nicht nur Verbindung, sondern auch Grenze – und trennt Flächen, Räume und Länder voneinander.

In der Architektur finden wir die Linie in ganz unterschiedlichen Kontexten wieder. Betrachten wir die Gesamtheit eines Gebäudes, können wir Linien im Fassadenraster erkennen, in Form tragender Säulen oder als sichtbares Skelett eines Fachwerks. Ein noch offener Rohbau offenbart uns die ganze Komplexität seines tragenden Gerüsts. Wie Nervenbahnen ziehen sich Rohre zur Be- und Entwässerung, Kabel zur Stromversorgung und zur Kommunikation durch die gesamte Struktur. Erst durch diese scheinbar unendlichen Leitungen wird das Gebäude zum lebendigen Organismus und findet Anschluss an den Rest der Welt. Nicht selten werden die Wände seziert, um diese Stränge in beeindruckenden Schächten offenzulegen.

Linien leiten uns

Zoomen wir näher heran und schauen in den vollständigen Bau. Navigationssysteme leiten uns durch Gebäudestrukturen und bringen uns schnell ans Ziel. Im angenehmen Tempo gleiten wir auf Fahrsteigen durch lange Flughafenhallen. Der Aufzug erfüllt die gleiche Aufgabe in der Vertikalen – und ermöglicht erst der Architektur nach oben hin alle Grenzen zu sprengen. Die Gerade kennt nur zwei Richtungen und bringt Ordnung in alltägliches Gewusel. Doch nicht nur in der Gesamtheit, sondern auch in den kleinen Einheiten einer Baustruktur – den einzelnen Räumen – spielen Bewegungslinien eine wesentliche Rolle.

Linien setzen Grenzen

Luftaufnahme von einer Kreuzung in Mexiko-Stadt

Mit einem weiteren Perspektivwechsel wird uns die Tragweite realer und gedachter Linien noch deutlicher. Zoomen wir vom Gebäude weg, erkennen wir zunächst die Begrenzung des Grundstücks. Hier haben unterschiedliche Funktionen eine Vielfalt an Möglichkeiten geschaffen: angefangen bei mittelalterlichen Burggräben, über Zäune bis hin zu High-Tech-Mauern. Doch es geht auch subtiler. Grünstreifen, wechselnde Bodenbeläge – Grenzlinien können ebenso elegant darauf hinweisen, ob wir ein Grundstück betreten oder verlassen.

Linien verbinden Räume

In einer höheren Abstraktionsstufe erkennen wir die Stadt als Gesamtarchitektur aus einem feinen Straßengeflecht. Wichtige Hauptlinien teilen den Raum maßgeblich auf oder bilden Sichtachsen hin zu besonderen Bauwerken. Viele Wege führen nach Rom, darüber sind wir uns einig. Aber haben Sie schon einmal nachgesehen wie viele Straßen sich am Triumphbogen treffen? Zusätzlich ist es entscheidend, ob ein Ort über Jahrhunderte organisch gewachsen oder eine Planstadt nach strengem Raster ist.

Linien bilden Lebensadern

Eine Fahrt durch Paris im Vergleich zu New York könnte nicht unterschiedlicher wahrgenommen werden, genau wie die Atmosphäre beider Metropolen. Doch um eine Stadt aus baulicher Sicht wirklich zu verstehen, müssen wir unter die Erde schauen. Die Antwort auf die Frage, wie weit eine Großstadt wachsen kann, liegt tief begraben. Abgesehen von weitverzweigten U-Bahn-Schächten sind es vor allem die Be- und Entwässerungssysteme die Aufschluss darüber geben, wie viele Menschen eine Stadt tragen kann. Neben den Adern der Infrastruktur gibt es natürlich weitere Sonderfälle von Stadtlinien, die das Bild und Leben ganzer Metropolen prägen. Das wohl prominenteste Beispiel hierfür war die Berliner Mauer, die selbst drei Jahrzehnte nach ihrem historischen Fall ihre Spuren hinterlässt.

Linien trennen

Geberit Logistik Zentrum, Pfullendorf

Inwiefern Grenzlinien das alltägliche Denken und Handeln beeinflussen, erkennen wir nicht nur am Ton politischer Debatten der letzten Jahre. So fein sich Linien durch abstrakte Karten ziehen, so hart können sie sich in die wirkliche Welt ganzer Kulturen einschneiden. Ganz konkret schiebt sich das größte Bauwerk der Welt als 20.000 Kilometer lange Mauerlinie durch die chinesische Landschaft. Wir grenzen unsere Territorien bereits auf den kleinsten räumlichen Ebenen ab und können damit einerseits viel Schaden anrichten, andererseits aber auch ästhetische Erlebnisse schaffen.

Linien ordnen und strukturieren

Kaum ein anderes Element wie die Linie steht so deutlich für Ordnung und Genauigkeit. Weichen die Fugenbreiten im Bad auch nur ein wenig voneinander ab, kann das selbst einem ungeübten Auge schonmal die Laune verderben. Der Fotograf kann stürzende Linien in der Architekturfotografie nicht leiden und weiß sich mit Spezialobjektiven zu helfen. Haben wir Mist gebaut, versuchen wir es wieder “geradezurücken“. Allerdings kann ein bewusstes Brechen mit dieser Vorstellung von Ordnung in der Kunst, der Architektur und jeder Art von Gestaltung zu wunderbaren Ergebnissen führen. Denn was wir aus der Vergangenheit lernen konnten: Fortschritt verläuft nicht nur linear.

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